Das Janus-Gesicht großer Dichtung – Kafka im Licht seiner Kunst –

Am Beispiel farbig verglaster Kirchenfenster hat Goethe die Doppelgesichtigkeit großer Kunst überzeugend erschlossen: Sieht man vom Markt und seiner Alltags-geschäftigkeit in die Kirche hinein, dann bleibt alles dunkel und düster; betritt man aber aufgeschlossen den Innenraum, verwandelt er sich in eine heilige Kapelle, die vom leuchtenden Glanz ihrer strahlenden Fenster bedeutungsvoll erfüllt ist. Diese Erkenntnis, die Goethe in seinem kleinen zweistrophigen Text „Gedichte sind gemalte Fensterscheiben“ offenbart, wird zweifellos zu einem Maßstab für den richtigen Umgang mit der Kunst und für das Bemühen, sie zu verstehen. Kafkas zwar weltberühmter, aber noch immer rätsel-voller Prozeß-Roman ist nur von innen zu erhellen und in seiner sinnvollen Entwicklung als einzigartiger geistiger Kosmos zu erkennen. Reiner Stach beschreibt in seiner opulenten drei-bändigen Kafka-Biographie minutiös den Alltag und das Leben des Dichters sowie sein ganzes soziales Umfeld. Aber wenn es um die Werke geht, die der Künstler Kafka geschaffen hat, reicht der Blick des Philologen und Biographen leider nicht über den „Markt Goethes“ hinaus. Infolgedessen bleibt für ihn „Der Prozeß“ ein unentwirrbares Durcheinander, „nichts ist hier normal, nichts ist einfach.“ Das Ganze wird zu einem geradezu bedrohlichen „Monstrum“, das die trostlose Schlußfol-gerung bewirkt: „Der Befund bleibt stets derselbe. Finsternis, wohin man blickt.“

Franz Kafka zum 100. Todesjahr 2024