Die Faszinationskraft von Kafkas dichterischer Bilderwelt geht zweifellos von ihrem scheinbar unauflösbaren Rätselcharakter aus. Das ist allerdings zugleich auch der unwiderstehliche Stachel zu immerwährenden Herausforderungen, weil kein denkender Mensch darauf verzichten kann, nach dem hintergründigen Sinn zu fragen und zu suchen. Jeder Lehrer, der bei einem Schüler das Interesse für Kunst wecken will, muß ihn neugierig machen auf das in ihr verborgene sinnerfüllte Geheimnis. Denn wer Leistung fordert, muß sie mit Sinn begründen. Und alle Erziehung sollte darauf abzielen, sinnvoll geistige Bildung zu vermitteln, um das eigene Leben verantwortungsbewußt gestalten zu können.
Nun gibt es keinen Dichter des 20. Jahrhunderts, der anspruchsvoller und tiefgründiger wäre als Franz Kafka. Da er bescheiden und sehr selbstkritisch war, hat er persönlich nur sehr wenig veröffentlicht, aber dafür ein ungeheures Konvolut an fertigen und unfertigen Schrift-stücken hinterlassen, das mittlerweile ein Dutzend Bände umfaßt. Wie ein Gralshüter hat Max Brod diesen Schatz an sich genommen, mit Argusaugen bewacht, gesichtet und stückweise seit dem Tode seines Freundes herausgegeben. Denn niemand hatte dem Dichter in den letzten 22 Jahren so nahe gestanden, sein einzig-artiges Genie erkannt und sein Werk zu veröffentlichen versucht wie er. Tatsächlich wurde „Der Prozeß“, als er 1925 erstmals erschien, sofort zu einem Paukenschlag, der umgehend Kafkas Weltruhm begründete. Niemand konnte sich der völlig neuartigen, außergewöhnlichen, ausdruckstarken und zugleich schlichten Anschaulichkeit dieser Bildersprache entziehen, die dennoch keinen Zweifel daran ließ, daß sie ein rätselvolles Geheimnis verbarg, dem nicht leicht beizukommen war, dafür aber ganze Heerscharen von Interpreten aus allen Richtungen mobilisierte, von denen jeder auf seine Art den gordischen Knoten zu lösen bemüht war. Da aber dabei niemand zu einem wirklich überzeugenden Ergebnis gelangte, lösten alle Thesen immer sofort nur Gegenthesen aus, so daß zu guter Letzt alles möglich wurde und ein scheinbar undurchdringliches Konglomerat entstand, in dem einige Akademiker dem Dichter sogar unterstellten, bewußt unentwirrbare Sinnlosigkeiten gestaltet zu haben, während andere in diesen gewollten Unstimmigkeiten gerade „seine unglaubliche Modernität“ erkannten. Die Ironie des Schicksals schuf für den verzweifelten Zustand der Ausweglosigkeit und Ohnmacht sogar sprachlich einen neuen Begriff: Kafkaesk! Wer von nun an völlige Hoffnungslosigkeit ausdrücken wollte, nannte seine Situation einfach kafkaesk.